Text: Robert Werner – Photography: Adrian Greiter
Der Sommer in unseren heimischen Nordalpen will nicht richtig in die Gänge kommen. Ein Regentief jagt das Nächste. Ein Blick auf die Wetterkarte verspricht ideale MTB Bedingungen im Tessin, dem südlichsten und wärmsten Teil der Schweiz. Nicht umsonst wird das Tessin auch gerne die Sonnenstube der Schweiz genannt.
Eingebettet zwischen Alpen und Seen wartet der Schweizer Kanton mit einem besonders milden Klima auf. So blüht auf den Alpweiden der Enzian während man an der Seepromenade unter Palmen einen Cappuccino genießen kann. 1000 gute Gründe um zwei große Tessiner Mountainbike-Klassiker näher unter die Lupe zu nehmen.
Gotthardpass – Passo del Sole
Unsere erste Tour beginnt im Norden des Tessin am Gotthardpass. Unzählige Male haben wir das Portal zum Süden schon mit dem PKW passiert. Heute Morgen stehen wir frierend bei 7 Grad Lufttemperatur in kurzen Hosen und dichtem Nebel auf 2100 Meter Passhöhe. Motiviert schwingen wir uns auf die Bikes um bei dem ersten Uphill Richtung Alp Buco di Pontino auf Betriebstemperatur zu kommen. Nur wenige Höhenmeter nach der Passhöhe stoßen wir durch die Nebeldecke und es eröffnen sich fantastische Weitblicke auf das Gotthardmassiv.
Auf Höhe der Alp Buco wartet die erste Singletrail-Abfahrt des Tages auf uns. Auf sanftem Waldboden mit einigen Wurzelpassagen zieht sich der Trail in engen Kurven Richtung Airolo runter. Die Morgensonne hat den Trail bereits vom Morgentau trockengelegt und der Grip auf den steilen Passagen gibt uns Vertrauen, so dass die engen Kehren auf dem Vorderrad rollend, stylisch versetzt werden können.
Voller Glückshormone fahren wir nach der morgendlichen Trail-Abfahrt in das Zentrum von Airolo hinein. Die Geschichte von Airolo ist stark vom Transitverkehr geprägt. Trotzdem lädt der kleine hübsche Marktplatz zum Cappuccino Frühstück mit Brioche ein. Mittlerweile ist das Thermometer bereits um 10 Uhr morgens auf hochsommerliche Temperaturen geklettert.
Es wird Zeit, die Langarm-Jerseys gegen Kurzarm zu tauschen und die Auffahrt zur Capanna Cadagno, unserem heutigen Nachtquartier zu beginnen. Die anfänglich geteerte und dann schottrige Auffahrt verläuft zunächst eher monoton im Wald bis zur Bergstation der Ritomstandseilbahn. Sie ist eine der steilsten Standseilbahnen der Welt mit einer Neigung von 87,% und wurde 1921 erbaut. Wer sich die bisherige Auffahrt ersparen will, kann auch von Piotta mit seinem Bike die Bahn nehmen und sich 780 Höhenmeter bequem nach oben shutteln lassen.
Lange dauert es nicht, bis uns das Tessiner Hochtal Val Piora mit seinen Naturhighlights völlig in den Bann zieht. In dem künstlich aufgestauten türkisfarbenen Ritomsee spiegelt sich das umliegende Bergpanaorama in seiner Oberfläche. Fasziniert von dem einzigartigen Naturschauspiel, passieren wir linker Hand den See.
An einem wilden Wasserfall steilt die Schotterstraße an und führt uns durch das 2000 Meter hoch gelegene Tal vorbei an hunderten Kühen zu dem Natursee Cadagno. Uns fällt sofort auf, dass mehrere Fischer in Campingstühlen am Ufer Ihre Angeln zu Wasser lassen. Für uns zuerst ein grotesker Anblick inmitten dieser alpinen Landschaft. Aber es scheint sich zu lohnen, wie uns ein gesprächiger Fischer verrät.
Im Cadagnosee tummeln sich mehr Fische als in anderen Bergseen. Dieser große Fischreichtum ist schon seit Jahrhunderten bekannt und Wissenschaftler aus der ganzen Schweiz und dem Ausland haben das Wasser untersucht, was zu spannenden Erkenntnissen geführt hat: Der See besteht aus drei verschiedenen Wasserschichten, die sich nicht mischen. Die oberste Wasserschicht enthält Granitmineralien und ist sehr sauerstoffreich. Ein idealer Lebensraum für die Fische. Die mittlere Wasserschicht ist durchsetzt mit einem Schwefelbakterium und ist rosarot. Nach so viel Fachwissen über den einzigartigen Bergsee erreichen wir die die Hütte Capanna Cadagno.
Freundlich werden wir vom Wirt Idalgo Ferretti auf der Panorama Terrasse empfangen. Auf der Speiskarte finden wir traditionelle Speisen wie Polenta und den würzigen Piora Käse. Die Hausmannskost lassen wir uns im späten Nachmittagslicht auf der Sonnenterrasse schmecken. Die Cadagno Hütte wurde im Jahre 1934 gebaut und 2013 vollständig renoviert bzw. modernisiert.
Abends gönnen wir uns noch eine warme Dusche bevor wir zur Hüttenruhe um 23 Uhr todmüde in unsere Betten fallen. Schon um 7 Uhr ist die Nacht für uns zu Ende und wir stärken uns an dem reichhaltigen Frühstückbuffet mit hausgemachten Marmeladen und selbst gebackenen Brot. Noch schnell frisches Quellwasser am hauseigenen Brunnen in die Trinkflaschen bevor wir im sanften Morgenlicht auf der Schotterstraße Richtung Alp Carrescio aufbrechen.
Ab hier zieht sich zunächst ein ruppiger Karrenweg der sich schließlich zum Singletrail verjüngt hinauf zum Passo del Sole. Das Weideland hier oben ist reich an verschieden botanischen Raritäten. Von Juni bis August wandelt sich das ganze Tal in einem einzigartigen Berggarten mit Tausend Farben und Aromen um. Die Auffahrt wird immer grober mit zwei kurzen Steilstücken. Für uns das reinste Fahrvergnügen.
Mit dem E-Bike ist der Uphill mit solider Fahrtechnik komplett im Sattel zu bewältigen. Für Biobiker ist dieser Abschnitt der Tour nur bedingt fahrbar und das Bike muss geschoben werden. Oben auf der Passhöhe macht der Passo del Sole seinen Namen alle Ehre. Der Himmel klart auf und die Morgensonne lässt die schroffen Bergflanken leuchten. Schließlich liegt uns die Trailabfahrt durch das Valle Santa Maria zu Füssen.
Soweit das Auge reicht, schlängelt sich der Singletrail durch ein Blumenmeer, an Wasserläufen vorbei zu einem kleinen Bergsee bis er hinter einer Kuppe verschwindet. Jetzt heißt es Sattel absenken und mit puren Fahrgenuss den Trail ab zu surfen. Zunächst geht es technisch auf messerscharfem Gestein durch verblockte Passagen auf S2-S3 Niveau, begleitet von dem atemberaubenden Panorama Richtung Bergsee. Danach gewinnt der Naturtrail immer mehr Flow, bis uns ein Warnschild auf einen Schiebeabschnitt hinweist. In diesem Teil ist es sehr lose und rutschig mit Absturzgefahr.
Nach wenigen Metern zieht der Trail weiter bis Campra in gewohnter Manier. Manchmal mit Super Flow, dann wieder mit engen Kurven, hohen Stufen und kurzen steilen Absätzen. „Alpiner Fahrgenuss Deluxe“ schießt es mir immer wieder durch den Kopf. Das finale Schlußstück Richtung Olivone mit Schiefer Felsplatten entlang der Schlucht verleiht dem Trail wieder den alpinen Charakter und ich wünsche mir, dass dieses Trail-Spektakel nie enden soll.
Deswegen entschließen wir uns kurz vor Olivone, unseren Restakku für eine weitere Trailschleife zu opfern. Wir strampeln 600 Höhenmeter die asphaltierte Passstraße eingesäumt mit den urigen Steinhäusern in das kleine malerische Skigebiet Nara hinauf.
Von hier führt ein angelegter Trail namens Cancuri hinab nach Acquarossa. Der Wald- und Wiesentrail lässt unsere Bremsen heiß laufen. Zum Teil in direkter Falllinie zieht er ins Tal und quert immer wieder die Straße bis er zum Schluss noch ein paar technische Spitzkehren serviert. Ab jetzt heißt es Strecke machen Richtung Bahnhof Biasca wo stündlich der Interegio nach Airolo hält. Nach 40 Minuten Fahrzeit nehmen wir in Airolo den Postbus, der uns zurück zum Gotthardpass bringt, wo wir unser Auto geparkt haben.
Luganersee-Monte Bar
Am nächsten Tag siedeln wir um zum Luganersee, dem südlichsten Zipfel des Tessins. Der See streckt seine Arme bis nach Italien und dank dem vom Mittelmeer geprägten Klima wachsen hier sogar Zitrusfrüchte und man kann unter Palmen sonnenbaden. Trotz seinem mediterranen Flair ist die alpine Welt nur einen Steinwurf weit entfernt und so haben wir uns einen Mountainbike Klassiker im Hinterland von Lugano rausgesucht.
Die Monte Bar Runde. Startpunkt ist das Dorf Tesserete mit seiner imposanten Pfarrkirche mit dem Glockenturm im romanischen Stil. Hier beginnt der Aufstieg auf der verkehrsarmen asphaltierten Straße durch das Val Colla. Wir folgen der Beschilderung Richtung San Lucio. Die Steigung nimmt auf der mittlerweile schottrigen Straße immer mehr zu, so dass es Kette links heißt. An der Capanna San Lucio mit der bekannten Kapelle haben wir den Großteil der Höhenmeter der heutigen Tour gemeistert.
Nun folgt das Filetstück der Tour: Ein panoramareicher Höhenweg in einem ständigen auf und ab Richtung Monte Bar. Diese einzigartige Querung lässt unsere Mountainbike-Herzen höherschlagen. Manchmal verblockt, dann wieder schnelle, flowige Passagen, auch überwiegend exponiert, so dass man ständig sein Vorderrad präzise auf den schmalen Singletrail unter Kontrolle haben muss.
In der Ferne taucht bereits die auf einer wunderschönen Anhöhe gelegene Berghütte Monte Bar auf. Die ideale Location für unsere Mittagspause. Die moderne und futuristische Hütte wurde erst 2016 erbaut und sticht uns durch seine außergewöhnlich quadratische Architektur ins Auge.
Das Untergeschoß aus Beton und die oberen Elemente aus Lärchenholz in einem kompakten Bauvolumen schaffen ein außergewöhnliches Ambiente. Auch an die Mountainbiker wurde gedacht. Ein Abstellraum für Bikes mit Lademöglichkeiten für E-Bikes sowie eine kleine Werkstatt verdienen das Prädikat „Bike friendly“. Im Speisesaal mit riesigen Panoramafenstern genießen wir Spaghetti mit hausgemachter Steinpilz Sauce.
Ein perfekter Ort, um zu entspannen und Kraft zu tanken für den restlichen Downhill. Über einen Grasflanke führt uns der flüssige Trail zum Aussichtspunkt Motto della Croce. Ein fantastischer Aussichtsgipfel mit riesigen Eisenkreuz auf 1255 Meter Höhe. Wir blicken hinunter auf die Dächer von Bellinzona und den Golf von Lugano bis zu den Hügeln des Malcantone und Monte Tamaro.
Nach einer Fotopause surfen wir noch wir nochmal auf einer flowigen Querung nach Davrosio und anschließend über eine verblockten S3-Trail am Bachbett zurück nach Tesserete. Was für ein legendärer Trailleckerbissen, den wir nochmal bei einem kühlen Bier im barocken Biergarten vom unserem Hotel Tesserete Revue passieren lassen.
Monte Bre
Nach diesen zwei ausgedehnten alpinen Touren zieht es uns am nächsten Tag auf den Hausberg von Lugano – dem Monte Bre. Vom Stadtrand von Lugano fahren die historischen Standseilbahnen von 1908 in zwei Sektionen hinauf zum sonnenreichsten Berg der Schweiz. Wir nutzen das zweite Bahnsegment ab Station Suvigliana, denn ab hier ist erst ein Bike- Transport möglich. An der Bergstation überwältigt uns das Postkarten Panorama.
Der Blick auf den Lago di Lugano mit der Stadt Lugano, gegenüber der andere Hausberg San Salvatore und im Westen die Walliser Alpen. Wir wollen aber noch eine Etage höher und zwar zur Alpe Bolla. Zunächst rollen wir runter in das kleine Dorf Bre mit 300 Einwohnern. Das romantische Dörfchen gilt als Künstlerdorf. Enge Gassen und steinerne Häuser bilden den Hintergrund für zahlreiche Skulpturen und Ornamente.
Recht steil geht es hinter dem Dorf durch die schattigen Kastanienwälder rauf zur Alpe Bolla. Und wir haben Glück, der Wirt hat gerade frische Nudeln gekocht mit seiner hausgemachten Tomatensauce. Nachdem der Kohlenhydratspeicher wieder aufgefüllt ist, nehmen wir den steilen, groben Singletrail hinunter nach Lugano und genießen das Treiben an der Seepromenade. Die Kombination aus alpinem und mediterranem Flair im Tessin begeistert uns jedes Mal aufs Neue. Genauso abwechslungsreich sind auch die Naturtrails .